Meinung zum Pixel 4: Zehn Gründe, warum Google endlich seine Pixel-Hardware begraben sollte
Gleich vorweg: Der Autor ist kein Google-Hasser oder Apple-Fan, er nutzt Android seit Jahren, allerdings nicht auf Google-Phones, denn die waren von Beginn an zu teuer für das Gebotene und schlicht zu langweilig im Vergleich zur Konkurrenz. Auch das Pixel 4 oder das größere Pixel 4 XL werde ich mir nicht zulegen, auch wenn sie in Europa überraschenderweise sogar günstiger geworden sind. Angesichts der Tatsache, dass Google im Begraben nicht erfolgreicher Technologien nicht gerade zimperlich ist, argumentiere ich nach der vierten Pixel-Generation nun dafür, endlich auch die Pixel Phones der langen Liste gestorbener Google-Projekte zu überantworten und die gewonnene Zeit und Energie künftig wieder Android zu widmen – und zwar für alle.
Wenn Google etwas kann, dann ist das Software – das behaupte nicht nur ich, auch Google selbst lobt die Überlegenheit der Software bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Besseren Zoom? Porträt-Modus? Nacht-Modus? Alles Dinge, die Google tatsächlich erfolgreich in Software umgesetzt hat, dass sich nun doch eine Telefoto-Kamera ins Pixel 4 geschlichen hat und damit die Inkonsistenz im Marketing unterstreicht, tut hier nichts zur Sache. Wäre es nicht schön, wenn alle tollen neuen Software-Goodies wie Night Scape und Co., Live-Caption, Google Lens oder die Recorder-App offiziell Teil von Android 10 wären und allen Herstellern mit Google-Lizenz offen stünden anstatt auf den eigenen, in homöpathischen Dosen verkauften Google Phones zu versumpern?
Das Pixel 3a war das einzig sinnvolle Pixel bisher
Doch hier soll es nicht nur um Wunschdenken gehen, es gibt handfeste Gründe, warum Google mit seiner Hardwaresparte und hier insbesondere mit den Pixel Phones und Pixel-PCs, etwa dem neuen Pixelbook Go, keinen Erfolg hat beziehungsweise haben wird. Google bietet weder die marketingtechnische Raffinesse von Apple, noch die nötige Hardware-Power um mit dem aggressiven Markt mitzuhalten oder ihn gar anzuführen, wie es sich für einen Android-Hersteller eigentlich geziemt, das haben drei Pixel-Generationen bereits eindrucksvoll gezeigt, die vierte wird, das nehme ich mir heraus, letztlich noch katastrophaler abschneiden.
Die Hardware an sich ist oft gar nicht mal so schlecht, wie man etwa am Pixel 3a (bei Amazon aktuell ab 360 Euro zu haben) sehen kann, das im Frühjahr zu günstigem Preis durchaus positiv bewertet wurde, die regulären Pixel Phones entpuppen sich mit ihren Flaggschiffpreisen über 800 Euro dagegen jedes Jahr zur programmierten Enttäuschung, insbesondere angesichts des Qualitätsniveaus der anderen OEM-Hersteller, die oft nicht mal halb so teuer sind. Im Folgenden will ich, rein subjektiv, darlegen, warum auch die Pixel 4-Generation meiner Meinung nach eher ein Rückschritt als ein Fortschritt ist und warum die Google-Mutter Alphabet endlich die nötigen Konsequenzen ziehen sollte.
1. Speicherbestückung nicht konkurrenzfähig
Google bietet nur Modelle mit 64 oder 128 GB Speicher an, beide nicht erweiterbar, die 128 GB-Version ist zudem um 100 Euro teurer: Ein Wucherpreis für 64 GB mehr. Das schmerzt insbesondere als das seit Jahren vorgebrachte Argument pro Cloud-Speicher in diesem Jahr nicht mehr zieht. Google verlangt für ein Original-Backup von Photos und Videos ab diesem Jahr monatlich zusätzlich Geld für das Cloud-Abo, insbesondere als Kamera-Handy ist das Pixel 4 daher von Beginn an stark unterdimensioniert, eine eigentlich nahe liegende Version mit 256 GB Speicher war Google wohl einfach zu modern. UFS 3.0? 8 oder gar 12 GB RAM? Alles unnötig für Rick Osterloh und sein Team.
2. Keine Ultraweitwinkel-Kamera in 2019
Professor Marc Levoy aus der Google Forschungsabteilung hat die Präpotenz des Google-Hardware-Teams in Worte ausgedrückt, als er im Zuge des Made-by-Google-Events erwähnte, eine Ultraweitwinkel-Kamera würde zwar Spaß machen, eine Telefoto-Kamera sei aber besser. Nicht die Nachfrage entscheidet bei Google über die Features oder sagen wir es so: Google entscheidet sich gern mal gegen populäre Features, nur um im Jahr darauf eine 180 Grad-Wendung hinzulegen und klein bei zu geben.
Dass eine Telefoto-Optik Vorteile beim Zoomen bringt hat Google 2018 noch bestritten, in diesem Jahr macht sie plötzlich doch Sinn. Das Pixel 5 wird dann wohl eine Weitwinkel-Optik bieten, 2 Jahr nachdem sie schon im Einstiegsbereich zum Standard wurde. Das schmerzt insbesondere weil das augenscheinliche Google-Vorbild, Apple, in diesem Jahr die richtige Entscheidung getroffen hatte. Eine Zoomkamera verbessert die Qualität und macht auf den Pro-iPhones daher Sinn, eine Ultraweitwinkel-Optik bietet dagegen etwas, was man mit Software gar nicht liefern kann: Mehrwert. Google versteht das aber nicht.
3. Immer noch kein 4K60-Video
Es ist fast schon ein Witz. Zwei Jahre nachdem Apple mit dem iPhone 8 erstmals 4K-Video-Aufnahmen mit flüssigeren 60 Frames pro Sekunde erlaubte und nun schon einige Hersteller mit 8K-Aufnahmen protzen, bleibt Google stur bei seinen maximal möglichen 4K mit 30fps, auch am teuersten Google-Flaggschiff des Jahres 2019. Der integrierte Snapdragon 855 ist keine Ausrede mehr, hier waren die Google-Techniker einfach zu faul oder unwillig.
4. Akkukapazität
Während die gesamte Industrie Richtung größere Akkus geht, selbst der diesbezüglich notorische Nachzügler Apple, macht Google den Schritt in die entgegengesetzte Richtung und verkleinert die ohnehin schon kleinen Akkus des Pixel 3 aus dem Vorjahr. 2.800 mAh beim 800 Euro teuren Pixel 4 mit 90 Hz-Display wird kein Langläufer, darauf wette ich.
5. Apropos Prozessor: Kein Snapdragon 855+
Es macht keinen großen Unterschied in der Praxis, deswegen nur der Vollständigkeit halber: Praktisch alle neuen Smartphone-Flaggschiffe des zweiten Halbjahres 2019 setzen auf den minimal schnelleren Snapdragon 855+, selbst Preisdrücker wie das Realme X2 Pro. Google als Frontrunner des Android-Ökosystems bleibt dagegen konservativ beim fast schon ein Jahr alten Snapdragon 855, ganz abgesehen davon, dass der Launchzeitpunkt knapp vor Jahresende ohnehin schlecht gewählt ist, weil in wenigen Monaten der Snapdragon 865 zum Standard auf neuen High-End-Smartphones wird und das Pixel 4 daher spätestens beim Samsung Galaxy S11 im Februar 2020 alt aussehen wird.
6. Motion Sense - Völlig am Markt vorbei
Viel wurde bereits über das Alleinstellungsmerkmal des Pixel 4 geschrieben: Die berühungslose Steuerung aka Motion Sense mittels Soli Radar-Chip, weswegen auch die Optik des Pixel 4 so altbacken wirkt. Google hat sich also bewusst gegen ein modernes Randlos-Design entschieden und stattdessen auf ein Feature gesetzt, das andere Hersteller bereits mehrfach probiert haben (Samsung, LG) und letztlich als Gimmick immer wieder in der Versenkung verschwand.
Aber Radar soll deutlich besser weil präziser sein und endlich den Durchbruch bringen, behauptet Google. Es hat allerdings auch den Nachteil, dass manche Länder sich weigern, die zivile Nutzung zu genehmigen, weswegen die Pixel 4-Phones etwa in Indien gar nicht erst auf den Markt kommen. Das muss man sich auf den Fingern zergehen lassen – Google verzichtet auf einen Wachstumsmarkt von mehr als 1 Milliarde Menschen nur um ein von niemandem wirklich verlangtes Feature zu verbessern. Viel Glück, Google!
What was promised vs what was delivered, feat @google pic.twitter.com/6eUh4dzzsC
— Ivan Čurić (@_baxuz) October 16, 2019
7. Motion Sense – Anspruch vs. Realität
Wenn wir schon beim Thema berührungslose Steuerung sind: Im Vorfeld hat Google mittels Teaser einiges versprochen und etwa die präzise Steuerung hervor gestrichen, die weit über das hinausgehen soll, was herkömmliche Technologien bieten können. Die Realität zum Launch des Pixel 4 sieht nun irgendwie anders aus. Wie bei der Konkurrenz kann die Technologie dazu verwendet werden, um den Wecker ohne Berührung abzuschalten, in Playlisten zu navigieren oder die Gesichtserkennung zu beschleunigen, indem das Handy bereits erkennt, wenn sich die Hand nähert. Auch etwas Strom kann Google sparen, weil das Always-On-Display deaktiviert wird, wenn man sich vom Smartphone entfernt. Alles ok aber letztlich doch weit vom ursprünglich vermittelten Anspruch entfernt, was etwa auch auf Twitter Thema ist (siehe oben).
8. Mal wieder einige Bugs zum Start
Schlimmer noch, die ersten Nutzer berichten teils bereits über eine wenig überzeugende Umsetzung im Alltag, etwa der durchaus als Pixel-Freund bekannte Youtuber Marques Brownlee, der in seinem ersten Hands-On-Video zum Pixel 4 XL von ziemlich miserablen Erkennungsraten bei den Handbewegungen berichtet. Sicher, Google wird die Technik mit der Zeit beim Kunden reifen lassen, auch die meisten nervigen Fehler des Pixel 3 wurden einige Monate später letztlich ausgebessert. Apropos Fehler: Die erstmals im Pixel 4 eingesetzte Face ID-Konkurrenz mittels 3D-Sensorik schaltet das Pixel 4 aktuell auch mit geschlossenen Augen frei, wie das unten eingebettete Video demonstriert – auch das wird Google wohl noch in den Griff bekommen. Viel Vertrauen erzeugt dieser Faux pas indes nicht, zumal der alternative Fingerabdrucksensor gestrichen wurde.
Proof, for those asking #madebygoogle #pixel4 pic.twitter.com/mBDJphVpfB
— Chris Fox (@thisisFoxx) October 15, 2019
Update zum Thema Gesichtserkennung 18.10.2019
Einige Leser kommentierten, dass es eine "Awareness"-Option gäbe, die man aktivieren könnte, damit ein Face Unlock bei geschlossenen Augen unmöglich wird. Das ist nicht (mehr) richtig, offenbar gab es diese Option nur in früheren Betaversionen. Google hat dem Autor des Tweets, Chris Fox gegenüber bestätigt, dass es keine "Require the eyes to be open"-Option bei den ausgelieferten Pixel 4-Handys geben werde, sprich so wie das Pixel 4 jetzt entsperrt, wird es auch an die ersten Käufer gehen, was meiner Meinung nach durchaus problematisch ist, da jeder das Handy vor das Gesicht eines toten oder schlafenden Menschen halten könnte, um es zu entsperren. Möglicherweise wird das mittels künftiger Updates aber noch geändert.
9. Chaotische Präsentation, unkontrollierte Leaks
Was bei Apple fast schon zur sektenartigen Zelebrierung ausartet, ist bei Google eine chaotische und uninspirierte Vorstellung: Die Rede ist von der alljährlichen Made-by-Google-Präsentation im Oktober. Nicht nur dass Google die Leaks im Vorfeld weniger unter Kontrolle hat als alle anderen Smartphone-Hersteller zusammen, langweilt man sich danach auch noch durch ein recht konzeptlos wirkendes und teils grotesk anmutendes Bühnenschauspiel, bei dem Fotografen oder Produktmanager langatmig ausschweifen, anstatt auf die Vorteile der neuen Produkte zu fokussieren. Das war schon 2018 so und wurde 2019 nicht gerade besser.
10. Seit Jahre keine weltweite Vermarktung
Ich will diese Aufzählung der Grauslichkeiten mit einem Thema beenden, das mich seit Jahren am Retail-Team von Google nervt, an dem sich aber wohl nichts ändern wird. Google schafft es einfach nicht, seine Produkte weltweit zu vermarkten. Die offizielle Google Store-Webpräsenz die es in gerade mal 33 Ländern weltweit überhaupt gibt, listet das Pixel 4 in knapp einem Drittel davon, sprich in 11 Ländern weltweit.
Sicher gibt es Händler im freien Markt, die das Pixel 4 auch nach Österreich und in die Schweiz bringen, dass Google sein Flaggschiff-Pixel-Produkt aber seit Jahren so vor der Öffentlichkeit versteckt und in den meisten Google-Stores weltweit primär nur Chromecasts und WLAN-Lautsprecher anbietet, spricht Bände über das Vertrauen, dass der Konzern in seine eigenen Produkte legt, vom Fehlen prominenter Flagship-Stores in den Metropolen der Welt ganz zu schweigen. Auch die Tatsache, dass PixelBook und Co. seit Jahren nur in englischsprachigen Ländern starten und nicht mal das konsequent, ist eines Weltkonzerns wie Google unwürdig.
Fazit: Die Pixel-Hardware macht keinen Sinn
Letztlich sind all diese Argumente, man findet wohl durchaus noch weitere, etwa die vielen Nachteile der PixelBooks, Grund genug, warum Google sich aus dem Hardware-Bereich, insbesondere in Bezug auf die Pixel-Produkte, zurückziehen sollte. Google Nest und Google Home könnten ja durchaus bleiben, um den Google Assistant und dessen Spracherkennung zu trainieren, die Pixel-Produkte selbst sind allerdings technisch und ökonomisch seit Jahren ein Reinfall und sollten endlich dem Google-Grab überantwortet werden. Die positiven Aspekte, insbesondere die Kamera-Software, soll Android zugute kommen und damit endlich auch auf überzeugender Hardware allen zur Verfügung stehen.
Postscriptum: Das war ein Meinungsartikel
Aufgrund der vielen Kommentare (danke übrigens für jeden einzelnen), möchte ich daran erinnern, dass es sich bei obigem Text um meine persönliche Meinung zu dem Thema handelt. Ein geplanter Test des Pixel 4 wird auch dessen Stärken hervorstreichen, da bin ich mir sicher. Den Vorwurf ein Google-Hasser zu sein, lasse ich allerdings nicht auf mir sitzen: Ich habe einige positive Worte für die meiner Meinung nach, hervorragende Software gefunden, die Google seinen Pixel Phones gönnt.
Ich bin allerdings der Meinung, dass sie im bisherigen Rahmen sehr schlecht aufgehoben ist. Ich hätte persönlich auch nichts gegen ein Wiederaufleben Nexus-artiger Smartphones zu günstigen Preisen, bin allerdings überzeugt davon, dass die Pixel Phones, und hier inbesondere die neue Pixel 4-Generation, komplett am Markt vorbeiproduziert wird und der Käufer angesichts des Preisniveaus viel zu viele Kompromisse eingehen muss. Zum Thema Gesichtserkennung wurde oben an passender Stelle noch ein Update eingefügt.