Wissenschaftlicher Kolonialismus oder Fortschritt? Chronische Krankheiten könnten durch Darmbakterien von Jäger- und Sammlergesellschaften geheilt werden
Wissenschaftler untersuchen das Darmmikrobiom von Jäger- und Sammlergesellschaften, um die gesundheitlichen Vorteile eines "ursprünglicheren" Mikrobioms zu verstehen. Diese Forschung wirft ethische Fragen auf, weckt aber auch Hoffnungen auf neue Behandlungsmethoden für Krankheiten von Arthritis und Depressionen bis hin zu Alzheimer.
Es ist klar, dass wir in den Industrieländern viele Spezies verloren haben, die für die menschliche Evolution wahrscheinlich von grundlegender Bedeutung waren. Sie sind einfach ausgestorben.
- Justin Sonnenburg, Mikrobiomforscher an der Stanford University
Die Menschen in den Industrieländern leiden zunehmend an chronischen Krankheiten wie Herzkrankheiten, Diabetes und Krebs. Diese Krankheiten werden mit einer Reihe von Faktoren in Verbindung gebracht, darunter ungesunde Ernährung, Umweltverschmutzung und übermäßiger Gebrauch von Antibiotika. Im Gegensatz dazu haben Jäger und Sammler ein deutlich geringeres Risiko, an diesen Krankheiten zu erkranken, was mit dem Zustand ihres Darmmikrobioms zusammenhängen könnte.
Forscher haben nach der Untersuchung von etwa Fäkalien der Yanomami im Amazonas-Regenwald und der Hadza im Norden Tansanias festgestellt, dass die Darmbakterien von Jäger- und Sammlergesellschaften vielfältiger und gesünder sind als die von Menschen in Industriegesellschaften. Möglicherweise haben sie mehr Bakterienarten, die mit guter Gesundheit in Verbindung gebracht werden.
So haben Forscher in einer Studie von Justin Sonnenburg veröffentlicht, dass sie in den Därmen der Hazda-Gesellschaft mehrere Millionen Proteinfamilien gefunden haben, von denen mehr als die Hälfte zuvor noch nicht im menschlichen Darm identifiziert worden waren, sowie Zehntausende mikrobielle Genome, die bislang noch nicht erfasst worden waren.
Je größer die Vielfalt, desto mehr [mikrobielle] Gene haben wir und je mehr Gene sie tragen, desto mehr biochemische Arbeit können sie leisten.
- Emma Allen-Vercoe, eine Mikrobiologin an der Universität von Guelph in Kanada
Bakterienarten spielen eine wichtige Rolle bei der Verdauung, der Nährstoffaufnahme, dem Immunsystem und der psychischen Gesundheit. Die Gründe für die Unterschiede im Mikrobiom zwischen Jäger- und Sammlergesellschaften und Menschen in Industriegesellschaften sind komplex und noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass die folgenden Faktoren eine Rolle spielen:
- Ernährung: Jäger- und Sammlergesellschaften ernähren sich tendenziell abwechslungsreicher und gesünder als Menschen in Industriegesellschaften. Sie essen mehr pflanzliche Lebensmittel, weniger verarbeitete Lebensmittel und weniger Zucker.
- Umweltfaktoren: Jäger- und Sammlergesellschaften leben in einer natürlichen Umwelt, die weniger mit Schadstoffen und Antibiotika belastet ist.
- Lebensstil: Jäger- und Sammlergesellschaften sind tendenziell aktiver als Menschen in industrialisierten Gesellschaften.
Die Suche nach fehlenden Mikroben in Jäger- und Sammlergesellschaften ist eine komplexe Aufgabe, die sorgfältig durchgeführt werden sollte. Dabei ist noch nicht klar, ob es überhaupt so etwas wie ein perfektes Mikrobiom gibt und wie man es erreichen könnte. Dennoch könnte diese Forschung zu einem besseren Verständnis des Mikrobioms und zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden für Krankheiten führen.
Ethik und wissenschaftlicher Kolonialismus
Außerdem ist wichtig, dass die Mikrobiomforschung ethischen Richtlinien folgt. So hatten sich etwa einige Yanomami sowie Hadza darüber beschwert, dass Forscher vor einigen Jahren Proben entnahmen und anschließend ohne jegliche Rückmeldungen das Dorf verließen. Die Rechte und das Wohlergehen der untersuchten Gemeinschaften müssen respektiert werden. Die aktuell befragten Forscher möchten aber keine Biopiraterie betreiben:
Das ist die Idee, dass Industrienationen in Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen eindringen und deren Ressourcen für ihren eigenen Vorteil nutzen. Sie gehen in diese Gebiete, die über zu wenig Ressourcen verfügen, und nehmen von ihnen, ohne ihnen das Eigentum an diesen Dingen zu geben, die von ihren Menschen und ihrem Land stammen.
- Justin Sonnenburg
Die Verhaltensökologin und Humanbiologin Alyssa N. Crittenden, die auch Umschreibungen wie "wissenschaftlicher Kolonialismus" nutzt erklärt:
Wir versuchen, Arten zu entnehmen, um unsere eigene Gesundheit zu verbessern, ohne dass die Gemeinschaft etwas davon hat. [...] Wenn das keine Biopiraterie ist, weiß ich nicht, was es ist. Er tritt häufig auf, wenn elitäre Gruppen - wie etwa weiße amerikanische Forscher - Ressourcen von weniger einflussreichen Gemeinschaften an sich reißen. Ich bin die Erste, die zugibt, dass ich viele Fehler gemacht habe und Dinge falsch gemacht habe.
Über eine Einwohnerin der Hadza ergänzt Crittenden außerdem:
Sie teilte mir mit, dass sie an keiner Arbeit mehr teilnehmen wollte, die biologische Proben erfordert - Speichel, Muttermilch, Urin, Blut oder Fäkalien. Sie sagte, sie sei erschöpft von all den Forschungsteams, die kommen, ein Projekt durchführen, kein Suaheli sprechen, die Gemeinschaft nicht kennen ... Sie war es leid, Teile ihres Körpers an Fremde zu geben.
Wissenschaftler und Gründer der Yanomami Gesellschaft David Good hingegen ist selbst halb Yanomami und halb Amerikaner. Seine Arbeitsweise könnte eine Brücke zwischen medizinischem Fortschritt unter Beibehaltung eines ethischen Verhaltens schaffen:
Die Mikroben gehören im Wesentlichen David und der von ihm gegründeten Yanomami-Stiftung. Im Grunde genommen leihen wir uns das Zeug aus. Und die Idee ist, dass, wenn wir etwas Interessantes finden, das ein gewisses [geistiges Eigentum] hat ... das den Yanomami zugute kommt.
- Allen-Vercoe